Du betrachtest gerade Das Meer, das Große Ganze und ich

Das Meer, das Große Ganze und ich

  • Beitrags-Kategorie:Identität

Song für diesen Blog:

1. Das Meer

Und so bin ich wieder am Meer – erst das dritte Mal in meinem Erwach­se­nen­leben. Damit feiere ich die wenigen guten Kindheits­er­in­ne­rungen, die ich aufzählen kann. Hier bin ich aufge­wachsen, zumindest in den Ferien und den endlosen Wochen­enden, an denen wir nach Norden gefahren sind. Ich hatte 5 schöne Jahre hier. Meine Eltern waren über diese Zeit Eigen­tümer eines Ferien­hauses innerhalb einer Wohnanlage auf Fischland-Darß mit weniger als 100 Metern zum Strand. Egal ob ich mit der Sonne den noch leeren Strand begrüßen oder vor dem Schla­fen­gehen nochmal nackt in die Wellen springen will – es ist immer der richtige Zeitpunkt.

Hinter der Wohnanlage gibt es einen Wald, in dem früher auch ein Spiel­platz für Kinder gepflegt wurde. Heute ist dort alles zugewu­chert, der Spiel­platz entfernt. Aufhalten konnte mich der Wildwuchs dieses Jahr natürlich nicht. Meinen heißge­liebten Kletterbaum musste ich trotzdem besuchen und erneut hinauf­steigen. Ich hoffe sehr, dass er, solange ich noch klettern kann, dort stehen wird, bereit gesehen und berührt zu werden. Ich habe jetzt schon Angst, dass er eines Tages gefällt wird oder von selbst abstirbt. Ein Teil von mir würde mit ihm sterben.

Darum habe ich diesen sicheren Ort für mich in Panorama-Bildern eingefroren.

2. Das große Ganze

Wir kommen aus dem Meer und gehen dahin zurück.”, waren meine ersten Gedanken, als ich den Strand bei dieser Reise betrat. Schon als Kind verfluchte ich dieses Urzeit­tierchen, das unbedingt aus dem Wasser kriechen musste, weil ich mir sicher bin, dass das Leben als Einzeller schöner gewesen wäre – ewig im Ursprung allen Lebens herum planschend.

Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, dass nur das Meer in der Lage ist, all meine Traurigkeit aufzu­fangen. Deswegen zieht es mich immer wieder hierher.

An Tag sechs begab ich mich nackt ins seichte Wasser und kniete mich hin. Es war diese alles empfan­genden Pose, wie wir sie aus diversen mehr oder weniger verstaubten BDSM-Regel­werken kennen: Die Knie weit ausein­ander, Hände auf die Oberschenkel aufgelegt, die Handflächen nach oben zeigend, den Blick auf die Endlo­sigkeit des Meeres gerichtet. Bereit zu empfangen, was das Meer zu geben hatte.

Mein Mann nannte es Waldatmung” und beschrieb damit, was mit mir passiert, wenn ich in der Natur oder in einem Gewächshaus bin: Ich spüre alles um mich herum, nehme es in mich auf und muss reizüber­flutet weinen. Kein schlechtes Weinen wohlgemerkt.

Er beneidet mich darum, denn sein Körper benötigt ständige Stimu­lation und Infor­mation, damit er zurecht­kommt. Gleich­zeitig nimmt er nichts wahr.

Das erste Mal, dass ich den Prozess der völligen Umgebungs­auf­nahme bemerkt habe, war im Botani­schen Garten der Univer­sität Tübingen. Das Tropenhaus überwäl­tigte mich so sehr, dass ich mich setzen musste. Tränen liefen nur so herunter. In solchen Momenten merke ich, dass alles auf der Welt kommu­ni­ziert, wir Menschen nur nicht in der Lage sind es wahrzu­nehmen oder davon zu lernen.

Und so saß ich sehr oft am Strand und saugte alles in mich auf.

Wenn ich könnte, dann würde ich ewig hier bleiben. Jeden Tag mit dem Meer beginnen und / oder beenden. 5 Uhr früh mit einem Kakao in der Hand den Sonnen­aufgang betrachten, bevor ich die Arbeit beginne. Vom Wind gepeitscht meine Freiheit genießen...

Aber ich wohne 12 Stunden entfernt und habe mir stand­ort­be­zogen sehr viel aufgebaut. Die drohende Klima­ka­ta­strophe mit ihren Überschwem­mungen, das mangel­hafte Internet, auf das ich beruflich angewiesen bin, Mecklenburg-Vorpom­merns schlechte Infra­struktur, der lauernde Rechts­ra­di­ka­lismus und die überteuerte Wohnland­schaft machen dies zu einem unerfüll­baren Wunsch. Also bleibt es wohl trauriger Eskapismus, an meine liebste Region zu denken.

3. Und ich?

Tag 6

Gerade kämpfe ich damit, dass es kein einziges wirklich wertvolles Bild von mir am Strand oder im Wasser gibt. Es gibt nur sinnlose, ewig gleiche Selfies. In der Öffent­lichkeit funktio­niert eben selbst insze­nieren und gleich­zeitig Modell sein nicht. Ich arbeite norma­ler­weise mit einem Fernseher, den ich per Kabel an meine DSLR-Kamera anschließe. Außerdem weiß ich auch blind was in meinem 50 mm Objektiv gerade zu sehen sein müsste. Einfach aus Gewohnheit, nach vielen Jahren mit Selbstauslöser.

Im Kopf male ich mir aus, was passieren würde, wenn ich meinem Mann irgendwie kryptisch erklären muss, wie er mit meiner Spiegel­reflex von mir ein Bild machen soll. Er ist nervös wegen allem. Es würde nur in Stress und Traurigkeit ausarten, da er weder künst­le­risch geschult noch in Fotografie trainiert ist. Sein Blick ist auch nicht verdorben von Jahrzehnten der Positio­nierung und Detail­re­tusche. Er wüsste nichtmals, was an dem Foto, der Pose oder dem Winkel (...) jetzt nicht stimmt und geändert hätte werden müssen. Und irgendwie sollte diese Unbeschwertheit auch so bleiben.

Vielleicht ist meine Zeit der Selbst­fo­to­grafie auch einfach abgelaufen. Seit 2011 habe ich mein Leben in Bildern dokumen­tiert und damit auch die festge­hal­tenen Erleb­nisse in mein Gehirn einge­klebt, genauso wie man es in einem Fotoalbum tun würde. In den letzten Jahren ist das immer weniger geworden. Wann hole ich schon mal die dicke Kamera aus ihrem Rucksack, der in einer Kiste hinter einem Raumtrenner versteckt ist? So gut wie nie. Smart­phones sind bequem und die Bildqua­lität zumindest annähernd nett.

Noch dazu siegt der Alltag und so verfliegt auch noch der letzte Zauber. Es entstehen keine Bilder mehr und kaum ein Erlebnis bleibt noch hängen. Und natürlich habe ich mich beim Packen für diesen Urlaub entschieden, die Kamera zu Hause zu lassen. Ich trauere.

Tag 8

Auch verändert sich mein Körper. Er sieht in Fotos nicht mehr so aus, wie ich es gewohnt war – besser, wie ich es gerne sehen würde. Nun habe ich ein paar Bilder am Strand und sie gefallen mir nicht. Die Haare zerknickt, platt und dümmlich abgewinkelt. Das Gesicht formlos rund, ganz speckig.

Mit der großen Jahreszahl 35” kamen die Verän­de­rungen und ich weiß nicht wohin damit: Es wird immer schwerer, schlank zu sein und mich fit zu halten. Durch den Reizdarm bin ich aufge­bläht und trage einen Kugel­bauch vor mir her. Auch muss ich so viel zur Schmerz­prä­vention unter­nehmen, dass es in Unfrei­wil­ligkeit ausartet. Zwischen Fitness­studio, Zucker-Restriktion und knall­harter Grenz­setzung weiß ich oft gar nicht, wo ich gerade stehe.

Nach meiner Libido fragen wir mal gar nicht. Den eigenen hyper­sen­siblen Körper neuer­dings zu spüren heißt auch, dass andauernd alles zu viel, zu wenig oder falsch ist. Irgendwo kratzt es, irgendwas riecht unangenehm, es klebt, die Berührung stimmt nicht, alles stimmt nicht. Ganz besonders PMS ist die zehntägige Hölle in bunt.

Irgendwo wäre ich gerne in einem Zustand, in dem wir nicht so viel für unsere Körper tun müssen. Einfach sein können, ohne zig unsichtbare Werte-Balken auffüllen zu müssen. Es ist wie in einem schlechten Video­spiel, das dir die Vital-Balken nichtmals anzeigt. Ich rate nur was gerade wohl wieder nicht stimmt.

All das und noch viel mehr zahlt darauf ein, dass immer weniger Bilder entstehen und immer weniger von meinem Leben übrig bleibt. Ich vermisse meine Zwanziger immer mehr und flüchte mich dahin zurück, so oft ich kann. Die PMS hat mich mit ihren lebens­müden Gedanken nun voll im Griff.

Dabei finde ich mich ganz hübsch, wenn ich in den Spiegel schaue. Nur zerrinnt das, wenn mein Gesicht nicht in einem bestimmten Winkel zu sehen ist. Was soll ich nur damit anfangen?

Tag 9

Wir haben den Urlaub verlängert und sind einen Ferienort weiter­ge­zogen. Ich dachte bei der Buchung, dass das kein Problem darstellen sollte. Schaue ich mir halt mal etwas anderes an”, dachte ich. Tja nun…so einfach war es dann nicht.

Hier ist es unglaublich feind­selig und touris­tisch. FKK wird nach außerhalb der Ortschaft verbannt und selbst das wunder­schön durch­ge­stylte Appar­tement fühle ich null.

Ich will nichts mehr als zurück in meine sandige, feucht muffige vorherige Unter­kunft, wo Weber­knecht Jeremy so fleißig die Zimmerecke beauf­sichtigt. Im neuen Apartment sind auch überall Glastische, die mich in ihrer Unprak­ti­ka­bi­lität bis ins nächste Jahrtausend triggern – auch Kindheits­er­in­ne­rungen an meine Oma und Mutter, die solche Tische mit zig Spitzen­deckchen beladen im Wohnzimmer hatten. Dauernd klongt es, weil mein Mann motorisch nicht in der Lage ist, etwas sanft abzusetzen. Unter­setzer? Fehlan­zeige. Stellt euch also mich maximal überlastet und gestresst vor, wie ich versuche, die letzten 3 Tage zu überstehen. Aber hey – Rainsho­w­er­dusche und Voyeurs­sessel sind doch was…

Die Ruhe ist jeden­falls erstmal hin.

Tag 11

Ich habe es geschafft, ein paar Bilder zu machen: Gemeinsam als Paar im Bett. Die Abend­sonne schien durch das offene Fenster hinein und ich war bezaubert, wie sie auf meiner Hand glitzerte.

Beim Herum­fuchteln mit meinem Handy merkte ich wieder, wie wenig Kameras in der Lage sind, das einzu­fangen, was wir mit unseren eigenen Augen wahrnehmen. Es war schwer meinen Mann irgendwie zu positio­nieren, dass das Licht eine gute Wirkung auf dem Foto hatte. So kamen mir wieder der Spiegel und die Kamera im Kontrast in den Sinn. Paaren wir ein schlechtes Objektiv, fehlende fotogra­fische Insze­nierung und den medial geschulten Blick auf uns selbst, so schaffen wir nur Resultate, die nicht so aussehen, wie wir es gerne tun würden.

Doch Spiegel sind anders. Seiten­ver­kehrt, freundlich, bewegt. Vielleicht machen sie gerade durch die ihnen innewoh­nende Bewegung so viel Freude. Hier ist nicht nur ein unwie­der­bring­licher Moment festge­halten, sondern es ermög­licht, sich in vielen Facetten zu positio­nieren. Dabei darf ein Spiegel einfach sein, ohne perfekt den richtigen Ausdruck halten zu müssen. Auch blicken wir uns im Zweifel ins Gesicht und nicht nur in das kreis­runde, nichts­sa­gende Objektiv.

4. Und die Verbindung zum Meer?

Hat es etwas Schlaues zu all meinen Fragen, Gedanken und Problemen zu sagen?

Ich überlegte:

  • Wenn ich am Meer bin, sind da nur Wasser, Sand und ich. Nichts tun müssen, nichts sein müssen. Also keinerlei Erwar­tungen. Auch nicht an den Körper.
  • Ich kann einfach sein und liegen. Den Horizont anstarren. Zeitlos lange.
  • Dem Wind lauschen. Überhaupt ist dieser leichte oder auch mal starke Wind eines der schönsten Dinge an der Außenwelt.
  • An einem guten FKK-Strand sind endlos viele nackte Körper, die genau null dem derzei­tigen Schön­heits­ideal entsprechen. Vielleicht 1% der Körper entspricht dem, was wir in den Medien sehen. Mehr nicht.
  • Das sind alles Körper, die altern, Kinder kriegen und gekriegt haben, operiert wurden, die von der Sonne völlig verbrannt oder schneeweiß sind. Körper, die einfach Körper­dinge tun. Alles irgendwie eins.
  • Außerdem: In der Natur gibt es keine richtigen Spiegel. Nur annähernde Verzer­rungen. Das Meer in all seiner Unruhe und Bewegung ist kein Spiegel. Vielleicht macht es das so universell tragend? Es ist ein Medium, das uns kein Spiegel ist und auch keinen Spiegel vorhält. (Mal die Berge von Müll ausgeblendet)
  • Das Meer nimmt uns alle genauso an, wie wir sind. Es entscheidet nicht, wer gut genug ist, zu schwimmen, zu baden oder einfach sein zu dürfen. Vielleicht sind die Wellen die größte Umarmung, die wir uns als Menschen überhaupt abholen können.
  • Größer und wichtiger als das Wasser aller Uterie dieser Welt. Vielleicht heißt das Meer auf Franzö­sisch deswegen auch "la mer", was nicht weit weg ist von "la mère" (die Mutter).

Bis bald