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In die Fluten

  • Beitrags-Kategorie:BDSM / Identität

Es ist 7:30 Uhr und ich entscheide mich, in den fried­lichen Kurort zu fahren, den ich jetzt seit fünf Jahren meide. Es ist der kleine Ort für den, oder besser für die zur damaligen Zeit darin lebende Person, ich in den Süden gezogen bin.

Diese Ortschaft war die letzten Jahre ein pieksender Stich in meinem Herzen und ich konnte mich einfach nicht dazu durch­ringen, die alten Straßen erneut entlang zu gehen. Doch heute, am 21.12.23, ist es soweit. Ich mache mich einfach spontan los. Die Arbeit habe ich liegen lassen. Sie wird noch da sein, wenn ich zurück bin, auch wenn ich noch nicht weiß wann das sein wird.

Ich mache mich auf den Weg, weil ich mich von einem Gegen­stand trennen möchte, dessen Abwesenheit lange weh getan hätte.

Von der Wichtigkeit lieb gewor­dener Gegenstände

2012 habe ich ein Armband gekauft und mir von meinem Herren anlegen lassen. Auch wenn ich mich von meiner Halskette und meinem Halsband getrennt habe, so konnte ich mich doch nicht von dem Edelstahl um meinem Handgelenk trennen. Dabei mag ich dieses klemmende Gefühl von Metall nichtmal …aber es ist mit Erinne­rungen getränkt. Mittler­weile ist es auch rostig, schmandig und lässt sich kaum noch richtig schließen.

Der Gedanke daran, das Armband abzulegen, hat mich vor Jahren zerrissen. Ich war nicht bereit. Wohl auch aus Schmerz darüber, wie sehr mir das fehlte, was ich in dieser Beziehung hatte. So versuchte ich es die letzten Jahre mit Reframing. Doch wie effektiv wirkt das Umdenken mit einem Objekt, welches dir von jemandem angelegt wurde, der dir immer noch so nahe geht?

Also muss ich es zumindest ersetzen. Es benötigte etwas Recherche, doch dann fand ich ein optisch identi­sches Armband. Im Endeffekt liebe ich den Stil und die Bedeutung zu sehr, um mich auch von einem Look zu trennen, der zu mir passt. Es wird in ein paar Tagen hier sein.

Das alte Armband wollte ich dem Fluss geben, an dem wir so oft saßen. Zuerst plante ich einfach nur die paar Meter bis zum Flussteil in meiner Stadt zu gehen, doch es ist richtiger, den Ort aufzu­suchen, an dem alles begann.

Neues und Altes

Es heißt, dass der Körper 7 bis 10 Jahre braucht, um alle Zellen einmal komplett zu ersetzen. Die Zellen der Haut werden jedoch schon nach einigen Wochen neu erschaffen. Im Mai sind es 7 Jahre für diesen Körper. Mir hat die Vorstellung immer gefallen, dass es bald keine Zelle mehr in meinem Körper gibt, die von ihm berührt wurde – eine Art zellu­lärer Neuanfang. Auch wenn sich die Nachkommen wohl an so manche schöne Berührung dumpf erinnern mögen.

Mit diesen klammen Gefühlen stieg ich aus dem Zug und tapste an die neue Anzei­ge­tafel, die es zu meinem letzten Besuch noch nicht gab. Ich wusste nicht mehr in welcher Richtung die kleine Insel im Fluss lag, zu der ich später wollte. Zum Glück gab es diese Karte. Die Route plante ich so: Zu seiner alten Wohnung, dann über Seiten­gassen zurück, weiter zur Insel und dann zu einem der Bahnhöfe, je nachdem, was sich später richtig anfühlen würde.

Schon die paar Meter Bahnsteig zerrissen mich. Hier wurde ich so oft mit einem kleinen Hund abgeholt oder heim begleitet…Zeit für einen bestimmten Song.

Auf dem Weg zur alten Wohnung wurde es immer schwerer.

Ewigheim 

Die alte Veranda konnte ich wegen der mittler­weile sehr hoch gewach­senen Hecken nicht sehen – doch der Eingang auf der Rückseite bot den gleichen kargen Anblick wie früher. Sogar der schwarze Dreck schien immer noch die gleichen Stellen der Hauswand zu zieren.

Ich sah die Ritze wieder, wo wir die entlaufene Katze unter dem Balkon fanden und die Umrisse des alten rostigen Fahrrades in der Einfahrt ploppten auf.

Eins 

Die Heart (feat. 8Kids) 

Es wurde Zeit. Ich verab­schiedete mich von der Wohnung und wählte einen neuen Song. Shuffle trifft eben doch zu gut. Dieses Stück Weg, ganz besonders mit diesem Song, wurde hart. Es formten sich Tränen, als ich langsam an einer Bahnhal­te­stelle vorbei musste. Irgendein Typ richtete seine Handy­kamera auf mich. Wütend starrte ich hoch, ging aber unbeirrt weiter.

Bald darauf näherte sich der Höhepunkt des Liedes und ich hätte so gerne geschrien, aber ich kann nicht. "So hört sich meine Seele an", dachte ich. So krächzt sie vom vielen inneren Schreien.

Also einfach weiter laufen. Ich wollte nah an den Fluss, musste also zu einer Stelle, wo unzählige Hunde ausge­führt werden. Zwei Personen und deren besorgte Tiere beäugten mich, als ich einge­mummelt und mit rotem Gesicht zielstrebig die Stirn­seite der Fluss­insel aufsuchte.

Bis ins Meer

Fluss
doppelwertig Armband

Das Armband hatte ich bis jetzt getragen, jedoch konnte ich es durch die dicke Winter­pols­terung kaum spüren. Ich zückte mein Handy. Die Stelle des Flusses wollte ich gerne festhalten: Schmutzig wirkende Strom­schnellen, an denen das Wasser unglaublich kraftvoll an mir vorbei brauste. Dann noch das Armband ablegen und ein Foto davon an der Location. Super, alles kein Problem.

Meer 

TANZWUT 

Dann weg mit dem Handy – Oh, vorher noch den Song ändern”. Unruhig fummelte ich das Handy ein paar Mal rein und raus.

Ich ging in die Knie und hielt den schim­mernden Edelstahlring in meinen Händen. Irgendwie wollte ich gerne loslassen – aufhören, an diesem Menschen so zu hängen. Ich erinnerte mich an die schönen Momente, all das, was ich vermisse und die Dinge, für die ich noch keine passenden neuen Menschen gefunden habe. Mein Herz soll dafür aber offen sein.

Dicke Tränen und der schnod­de­rigste Rotz seit langem brachen aus mir heraus. Ich ließ einfach alles laufen. Das ist wohl diese Traurigkeit, wie sie nur das Meer auffangen kann.

Ich hatte Sehnsucht nach dem Meer.

Zwei Taschen­tücher vollge­schnäuzt machte ich mich mit einem neuen Song bereit, das Armband in den Fluss zu geben. Ich wollte es nicht werfen, sondern langsam eintauchen und dann loslassen, das kalte Wasser dabei an den Fingern spüren.

Bis zum Meer 

TANZWUT feat. Moran Magal 

Es dauerte, bis ich den nötigen Mut aufge­bracht hatte. Meine Finger waren schon ganz kalt, als ich es der Strömung überließ. Ich konnte es sofort nicht mehr sehen. Erneut schossen mir Tränen über die Wangen.

Ich konnte mir selbst zwar nicht versprechen, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich über diesen Menschen Tränen vergieße, aber ich wusste zumindest, dass all das Wasser dieser Welt für mich da sein würde.

Mein Blick verharrte noch eine Weile auf den Wellen, bis ich mich entschloss, zu gehen. Das kleine Knäuel an Rotzfähnchen entsorgte ich im nächsten Papierkorb und begann den langsamen Rückweg zur Bahnhal­te­stelle. Mir war egal, wann der nächste Zug käme. Einfach hin und dann warten.

Sehnsucht

In mir breitete sich eine unglaub­liche Sehnsucht nach der Ostsee aus. Eigentlich würde ich gerade nichts lieber tun, als den nächsten Zug zu nehmen und ein paar Tage das Meer anzustarren. Doch ich habe Verant­wortung und Verpflichtungen.

Nun warte ich auf das neue Armband. Mal sehen, wie sich das anfühlt.

Update 2024/01/09

Neues Metall

Das neue Armband ist angekommen – letzte Woche schon. Ich ließ es in seinem kleinen, flachen, gepols­terten Päckchen in meinem Regal stehen. Wohl für den Tag, an dem ich eine Öffnung für den besten Moment hielt. Ich wollte gerne allein sein. Mir fehlt das Allein sein gerade sehr.

Heute war es soweit. Ich habe mich morgens nochmal hingelegt, weil ich so gerne allein schlafe. Es regene­riert mehr Energie.

Doch dieses Mal erwachte ich hyper­ven­ti­lierend aus einem Traum. Kurz zusam­men­ge­fasst endete der Traum mit einer krassen Abweisung der Hilfe, die ich leisten wollte. Dabei wollte ich wirklich nur helfen – die Situation verbessern. Die Reaktion war so hasserfüllt gegen meine Person, mich gewaltvoll von sich abhaltend. Mein Gegenüber monströs mutiert und ich hielt still. Ich hielt aus.

Wie in Träumen so üblich, verän­derte sich der Ort. Ich war nun allein und versuchte zu schreien. Es ging nicht – wie immer. Nur heiseres verzwei­feltes Hauchen. Ich hörte, dass sich eine Tür öffnete und wusste, dass mein Mann eintritt. Es war okay, dass er es hörte, also versuchte ich es weiter. Stark atmend wachte ich auf. Er war tatsächlich in den Raum gekommen und holte sich Kleidung für den Tag.

Ich blieb unter den Decken zurück und wurde erstmal richtig wach. Er stellte keine Fragen, verab­schiedete sich nur irgendwann und ging aus dem Haus.

Grace Omega 

Jin-Roh Original Sound­track by Mizoguchi Hajime 

Ich stand auf und holte den kleinen Umschlag. Umständlich zerschnitten, statt aufge­rissen, öffnete ich ihn. Ein Griff hinein und ich hatte das neue Armband in den Fingern.

Es sah grob aus wie das Alte. Keiner außer mir würde wohl den Unter­schied erkennen. Doch es ist anders. Es fühlt sich zerbrechlich an, irgendwie wackelig und fragil. Einige der Bolzen, die es zusam­men­halten sollen, sind locker und wackeln. Der Kugel-Verschluss legt sich nicht vollkommen bündig in die Kuhle. Dadurch schließt es nicht richtig fest und lässt sich leicht lösen. Es fühlt sich an wie eine billige Kopie.

Mein erster Gedanke war, ob ich weiter suchen sollte, bis ich das gleiche Armband wie früher finden würde. Eines, das wirklich genauso ist. Doch warum? Dieses sieht doch optisch richtig aus? Ob es wieder 12 Jahre hält, weiß ich natürlich nicht. Auch wenn es nicht täglich getragen wird, so wie es am Anfang des letzten Leben der Fall war. Für dieses Armband gibt es diesen Zweck nicht. Es soll ein bewusster Begleiter sein. Vielleicht sogar nicht mehr als ein modisches Acces­soire, das meine Liebe zu BDSM aufzeigt. 

Schluss­ge­danken

Während ich diese Worte in mein Handy tippe, pausiere ich immer wieder und fahre mit den Finger­spitzen über den hucke­ligen Metallring. Außer zu einer kurzen Prüfung, ob es die gleiche Größe ist, habe ich das Armband nicht angelegt. Es liegt verschlossen vor mir und ich traue mich nicht es anzuziehen.

Das Vielleicht-Versprechen am Fluss habe ich die letzten Wochen schon längst gebrochen und es tut einfach immer wieder weh. Ich mag nicht, dass es immer wieder weh tut, fühle mich aber recht ausge­liefert. Und blöd, weil das wohl seit 2018 schon hundert mal Thera­pie­ge­gen­stand war. Zig Mal dachte ich, dass es nur eine Übertragung von Gefühlen aus der Kindheit ist. Dass es endlich vorbei ist, seit ich zwei dieser Kindheits­men­schen aufge­sucht und mich mehr oder weniger ausge­sprochen habe. Doch mit einem ging es nicht, da er starb, als ich ein Teenager war.

Vielleicht ist dieser nie auf Augenhöhe beendete Konflikt die Wurzel aller Angst vor Ablehnung, Abweisung und auch die Quelle von Sehnsucht…

Und was machen wir jetzt, kleines Armband?
Außer wieder weinen meine ich…